Am 28. Oktober 2022 war Eva Menasse im „Forum Austriaco di Cultura“ in Rom zu einer Lesung aus ihren beiden ins Italienische übersetzten Erzählbänden „Tiere für Fortgeschrittene“ (Animali per esperti“, Bompiani 2019) – und „Lässliche Todsünden“ („Peccati capitali veniali“, Mimesis 2021) eingeladen. Anlässlich dieser Lesung führte Prof. Susanne Lippert mit Eva Menasse ein Gespräch über ihre Arbeit als Schriftstellerin.
Die Thematik Antisemitismus umspannt dein ganzes Schaffen, angefangen mit „Der Holocaust vor Gericht“, über „Vienna“ bis zu „Dunkelblum“. Vom Opferroman zum Täterroman, von der persönlichen Geschichte zum Schweigen der Täter?
Die Urszene meines Schreibens ist eine Bahnhofszene. Es ist die Geschichte, dass mein Vater mit acht oder fast neun Jahren, in einen Zug gesetzt wurde, am Wiener Westbahnhof. Die lässt mich, seit ich sie als Jugendliche erfahren habe, einfach nicht mehr los, bis heute. Und dazu gibt es noch die zweite Szene. Es sind zwei Bahnhofsszenen, die erste, als er wegfährt und nicht weiß, was passiert und auch nicht versteht, was es bedeutet – und die zweite, als er zurückkommt, inzwischen 17 Jahre alt, ein großer junger Mann, und da stehen zwei alte zerlumpte Gestalten in Wien am Bahnhof, die offenbar seine Eltern sind, an die er sich kaum mehr erinnert, und sie können nicht mehr miteinander sprechen, weil mein Vater sein Deutsch vergessen hat. Diese Szenen sind eine Ungeheuerlichkeit, sie sind der Urgrund meines Forschens oder auch meines Staunens über die Dinge, die meiner Familie passiert sind.
Dass unser Vater so gut Englisch konnte, wurde uns Kindern ja lange nur als Heldengeschichte präsentiert. Aber ich habe wohl immer gespürt, dass da noch etwas anderes dahintersteckt – man hat nämlich einfach die Tatsache der Vertreibung und Flucht weggelassen. Das Englischsprechen wurde so zu einer Trophäe. Und wenn ich ein neues Thema finde, so wie jetzt „Dunkelblum“, dann springt mich genau dieses Gefühl wieder an: Da steckt noch etwas dahinter, etwas Dunkles, Gefährliches, aber ich will es wissen. So war das in der Bibliothek, als ich auf dieses Rechnitz-Thema gestoßen bin und plötzlich verstanden habe: An der Sache ist noch viel mehr dran, etwas, was ich noch gar nicht weiß. Da habe ich angefangen zu recherchieren. Die Vergangenheit ist der Urgrund meines Schreibens, aber trotzdem gehen diese Themen auch manchmal weg. Und dann kommen sie wieder.
Eigentlich habe ich geglaubt, dass ich für mich das ganze Antisemitismus-Judentum-Thema schon mit „Der Holocaust vor Gericht“ und „Vienna“ erledigt hatte, auch mit den Zeitungsartikeln zu dem Thema (über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, über das jüdische Museum, über die geschändeten Friedhöfe in Berlin). Ich habe viel zu solchen Themen geschrieben, das hatte bereits in meiner journalistischen Karriere ein großes Gewicht. Nach „Vienna“ konnte ich davon für eine Weile weggehen. In „Quasikristalle“ taucht noch dieses Ausschwitzkapitel auf und in der Erzählung „Enten“ in „Tiere für Fortgeschrittene“ kommt die Vater-Geschichte nochmal und etwas anders hoch. „Enten“ ist ja wie eine Wiedervorlage von „Vienna“, auf eine andere Weise, das war mir schon klar. Das hat mir weh getan, das zu schreiben, das war eine Schmerzbeschreibung. Und dann dachte ich, jetzt geht das Thema Vergangenheit weg, jetzt ist es endlich erledigt, aber dann ist es mit „Dunkelblum“ doch wieder zurückgekommen, hier nun eher von der Täterseite.
Und politisch ist das Judentum, mein Judentum, jetzt halt ein Riesending geworden, seit ich 2016 an einer Forschungsreise in die besetzten Gebiete teilgenommen habe. Das war eine Anthologie von zwei jüdisch-amerikanischen Schriftstellern, Michael Chabon und Ayelet Waldman[1], in der 2017 – also 50 Jahre nach der Besatzung des Westjordanlandes – Schriftsteller beschreiben, was es bedeutet, ein Land 50 Jahre lang besetzt zu halten. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich überhaupt nicht mit diesem Thema Palästinenser und Besatzung beschäftigt, ich glaube, ich bin dem vielmehr bewusst ausgewichen. Ich hatte schon so lange gebraucht, mir diese jüdische Teil-Identität klarzumachen oder sie irgendwie anzunehmen, dass mir das zu viel war. Dann kam die Arbeit an der Anthologie, und jetzt stecke ich bis zum Hals in diesen Debatten und komme nicht mehr heraus. Aber gleichzeitig habe ich viele Ängste einfach nicht mehr. Ich verspüre da inzwischen eine große Klarheit. Auch beim Schreiben der Essays. Ich weiß, dass alles sehr komplex ist, aber ebensosehr weiß ich, dass man über diese Sachen sprechen können muss, gerade auch in Deutschland.
Ich denke, dass mir von allen Büchern „Vienna“ immer noch am besten gefällt, weil es so leidenschaftlich ist. Da ist so viel Power drin, obwohl es gar nicht so leicht zu lesen ist, dadurch dass immer die Namen fehlen. Es ist ja eigentlich nicht wirklich konventionell geschrieben.
Ich finde es eben gerade deshalb leicht zu lesen, wenn man sich nur vorstellt, die Erzählerin ist die Litfaßsäule in der Mitte und aus ihr heraus dreht sich die Kamera so rund herum. Alle stehen in einem Verwandtschaftsverhältnis zu ihr. Sie ist das leere Zentrum. Aber so findet man immer in die Mitte zurück.
Aber zurück zum Thema Antisemitismus oder Judentum. Diese eigene Position ist schon gut für eine Schriftstellerin. Wie zum Beispiel Amanda Gorman, die eben Schwarze ist, in Amerika. Und du bist halt die Tochter eines jüdischen Vaters.
Eine meiner Freundinnen ist die jüdisch-amerikanische Philosophin Susan Neiman. Die hat mir zum letzten Geburtstag, als wir schon alle mitten in diesen Debatten standen – sie ist ja da auch auf meiner Seite, wir nennen es liberales und progressives Judentum – von Isaac Deutscher „The Non-Jewish Jew“ geschenkt. Darin geht es genau darum, dass jüdisches Denken immer dann wichtig geworden ist, wenn es sich an die Grenzen und darüber hinaus bewegt hat. Wie Heine und Börne und Marx. Also wenn man darüber hinausdenkt, wenn man versucht, die eigene gesicherte Identität zu verlassen, indem man zum Beispiel säkularer wird: In diesen historischen Momenten entstand das Interessante, es entstand an den Rändern, wo die Spannung ist, das gilt ja für vieles. In der Mitte einer selbstgewissen Gesellschaft, direkt im warmen weichen Bauch einer wie immer gearteten, nationalen oder religiösen Identität, wird selten etwas Neues entstehen. Es geht um die Spannung zwischen innen und außen, darum, zu begreifen, dass jedes Wir auch ein Ihr generiert. Und Judentum war immer auch das, so enorm dialektisch: Gelehrsamkeit plus Skeptizismus gegenüber der eigenen Gelehrsamkeit, das ist ja fast ein verrücktes Spiel im Judentum, dass jedes Argument immer noch einmal umgedreht wird und noch einmal. Auch die Religion funktioniert ja so. Das ist fast wie das wissenschaftliche Denken, wie es Christian Drosten in der Corona-Pandemie immer beschrieben hat: Das eigene Argument hält nur so lang, bis man ein besseres Gegenargument gefunden hat. Und am besten findet man´s selber. Also dieses sehr dialektische, diasporische Judentum, damit kann ich mich schon sehr identifizieren, inzwischen. Und so eine öffentliche Debatte wie die mit Maxim Biller macht mich letztlich jüdischer als ich vorher war.[2]
Das denke ich auch. Ich fand es wirklich anmaßend. Das ist Cancel Culture. Es geht ja auch darum, jemandem einfach abzusprechen zu sagen, was man denkt. Du darfst nur denken, was ich für richtig halte.
Hast du die Erwiderung von Meron Mendel[3] gelesen? Die war sehr, sehr gut. Und damit war die Debatte auch zu Ende.
Da hab ich dann aber auch an dieses neue Projekt gedacht, von dem du gestern gesprochen hast. Du hast davon gesprochen, dass dein neues Buch genau darum gehen soll: Um die gesellschaftlichen Konflikte, die durch die Digitalmoderne noch so verstärkt werden. Nicht unbedingt bezogen auf dieses Thema.
Ja, aber eben auch bezogen auf dieses Thema. Und deshalb quält mich der neue Essay auch so. Erstens, weil das schwer zu fassen ist, das Generelle daran, was für alle Debatten gilt. Und zweitens, weil ich das dann auf dieses Thema in Deutschland umlegen will. Und ich kenne das schon: Mein Documenta-Text vom Sommer zum Beispiel, den habe ich, glaube ich, drei Mal angefangen. Das war eine schwere Geburt. An dem hab ich ein ganzes Wochenende geschrieben. Normalerweise schreibe ich so einen Essay schnell, ich bin Journalistin gewesen, ich konnte über Nacht Theaterkritiken und Kommentare schreiben. Ich kann schnell schreiben, wenn es sein muss. Aber bei so was: Ich habe drei Mal angefangen, bis ich gemerkt habe, jetzt trau ich mich erst, durch den brennenden Reifen zu springen.
Da geht´s ja dann auch um dieses Politically-Correct-Thema und so weiter, das läuft ja alles in eine Richtung zurzeit. Man darf Dinge nicht tun, weil irgendjemand anders es verbieten will. Zum Teil ist das auch richtig, natürlich, zum großen Teil. Aber es ist zum Teil auch schwierig.
Mir geht´s um diesen übergeschnappten Moralismus, der auch überhaupt keine weltanschauliche Basis mehr hat. Ich geb dir ein Beispiel: In unserer PEN-Berlin Arbeit haben wir gleich am Anfang eine Assange-Solidaritätserklärung geschrieben, als Assange in England seiner Auslieferung nach Amerika wieder einen Schritt näher gerückt ist. Was unglaublich ist, einer der größten Justizskandale der westlichen Welt.
Ja, das denke ich mir dann auch immer: Was sind wir für eine Demokratie?
Genau, das ist der Punkt. Wir brauchen nicht erst auf Russland und auf die Türkei zu zeigen, wenn wir so etwas zulassen, als demokratische Staaten. Jedenfalls hab ich in der Presseerklärung geschrieben, was ich privat schon öfter gesagt habe: Assange ist der Dreyfus unseres Jahrhunderts, ein ganzer Staat stürzt sich auf ein Individuum. Da haben sich gleich welche aufgeregt. Irgendwelche Enkel, vermutlich von Nazis, sag ich jetzt mal so salopp, die dann argumentiert haben: Dreyfus ist nicht denkbar ohne Antisemitismus und das darf man nicht einfach als Referenz-Fall für andere Fälle nehmen, die nichts mit Antisemitismus zu tun haben. Das ist klassische Identitätspolitik, aber von Leuten, die selbst gar keine Juden sind. Die mir vorschreiben wollen, dass ich so einen Vergleich zu unterlassen habe.
Ich finde, es treibt schon manchmal absurde Blüten. Wie auch mit diesen Gedichten von Amanda Gorman, die nicht von einer Weißen übersetzt werden dürfen. Das wird so eng.
Kennst du John McWhorter? Das ist ein Linguist von der Columbia-University. Und das Buch heißt auf Deutsch: Die Erwählten. Und auf Englisch heißt es „Woke racism“. Er hat das, glaube ich, richtig durchdacht, in dem er das moralische Rechthabenwollen als neue Religion beschreibt. Er wendet sich gegen diese rigorosen Übertreibungen von „critical race theory“ und „black lives matter“ in Amerika. Das ist ein sehr amerikanisches Buch, aber die Analyse kann man sehr gut auch auf Deutschland und die Antisemitismus-Diskussion umlegen. Das wäre, was ich gern versuchen möchte, wenn ich mich endlich trauen würde.
Zu einem weiteren wichtigen Punkt: die Vaterfigur. Der Vater als Brücke in die Literatur. Dein Vater ist ja dann sozusagen auch die Brücke zum Judentum, aber auch das Thema Schweigen hat mit dem Vater zu tun.
Dass nichts wirklich schlimm ist, außer es bedroht das Leben.
Das hat wieder etwas mit dem Vater in „Vienna“ zu tun, der ja immer sagt: „Alles bestens“. Dass man eigentlich immer nur das Positive sagen darf. Und das blitzt immer wieder auf, auch in den Erzählungen. Ich könnte mir vorstellen, dass das etwas mit deinem echten Vater zu tun hat. Der war ja tatsächlich so, anscheinend, ein Sunnyboy.
Ja, mein Vater war ein sehr sonniger Mensch. Ich glaube, ich habe das auch von ihm geerbt. Zumindest teilweise.
Und obwohl er gar nicht wollte, dass seine Kinder schreiben, war er aber auch irgendwie die Brücke zum Schreiben, oder?
Er war die Brücke, weil das Talent von ihm gekommen ist. Dabei hat er selbst das nie richtig verstanden. Er hat nie geschrieben, er hat erzählt, er war ein brillanter Erzähler. Er war kein Journalist, er war Pressechef, er hatte einen Bürojob. Aber er konnte wahnsinnig gut sprechen, wahnsinnig gut Witze machen, wahnsinnig gut Reden halten. Er hat für uns Kinder, für alle drei von uns, eine eigene Gute-Nacht-Geschichte-Figur erfunden. Er hat uns nie Geschichten vorgelesen, sondern er hat sie erzählt, aus dem Stehgreif erfunden. Und die waren zum Teil schon ein bisschen verrückt. Und unser Großvater, sein Vater, der war genauso. Das waren einfach begnadete Redner, Sprachgenies. Die konnten so gut erzählen: Anekdoten, Aphorismen, Wörterverdrehen, Kalauern. Und immer, wenn mein Vater diesen blöden Spruch gesagt hat, ‘Drei Kinder, zwei Schriftsteller. Womit hab ich das verdient?’, hab ich versucht, ihm zu erklären, dass wir das von ihm gelernt haben. Das Talent kommt von ihm, die Formulierungskunst. Aber warum er nie geschrieben hat, das wurde mir so richtig erst klar, als ich seine Grabrede geschrieben hab. Weil er genau in dem Alter, als er lesen und schreiben gelernt hat, die Sprache wechseln musste. Mit sechs lernst du die Buchstaben, mit sieben, acht, lernst du langsam zu schreiben und eigene Gedanken zu formulieren. Und genau in dem Moment ist er von der einen Sprache raus in die andere Sprache geworfen worden. Und er war immer ein bisschen unsicher beim Schreiben auf Deutsch. Also, er hat auch ein paar Fehler gemacht in der Rechtschreibung. Er hat in der Emigration ja dann keine gute Schulbildung mehr gehabt. Er hat in England schon noch die Grundschule besucht, aber mit vierzehn war´s dann aus. Da war Krieg und er hat nach der Schulpflicht in einer Fabrik gearbeitet.
In „Vienna“ ist der Vater schon irgendwie mein Vater. Also der Charakter ist seiner, obwohl einzelne Sachen erfunden, andere weggelassen worden sind. Ebenso der Onkel, die beiden sind schon Portraits der Vorbilder. Der Rest ist ziemlich fiktionalisiert. So war zum Beispiel meine Mutter etwa gekränkt wegen einer Stelle, wo sie das Gefühl hatte, da kommt sie blöd weg. Das war aber ein Zitat von der ersten Frau meines Vaters. Ich habe Sachen amalgamiert. Ich habe nur einen Cousin und im Buch sind es zwei Cousins. Man formt es eben um, wie man es braucht.
Na ja, das dient dazu, um reinzukommen in die Thematik und dann wird das umgeformt. Das haben ja viele gemacht. Thomas Mann, die „Buddenbrooks“, das war ja auch ein Schlüsselroman.
Natürlich. Und trotzdem. Es gibt diesen berühmten Aufsatz von Thomas Mann, da sagt er: Ein Schriftsteller ist wie ein Kind, das mit vorgefundenen Sachen was ganz Neues bastelt – und will dann gelobt werden für das tolle Neue, das es gebaut hat und nicht hören, ach, das ist ja mein alter Mantel.
Ja klar, das versteh ich gut.
Und genau das ist es. Die Familie oder die Freunde, die finden immer nur das, was sie wiedererkennen, und deswegen denken sie, alles andere ist ebenso von der Realität übernommen. Und der Schriftsteller nimmt so zwei, drei Sachen und ist auf seine Leistung stolz, was er Neues draus gebaut hat. Und will nicht dauernd zurückgeführt werden: Aber das ist doch der und das hast du doch von dem genommen! Das sind wirklich zwei total verschiedene Perspektiven auf das, was ein Schriftsteller macht. Das erkenne ich jetzt auch viel besser. Deswegen habe ich mich da früher mehr gewehrt.
Ich hab in letzter Zeit so viele Sachen gelesen, z.B. von Monika Helfer.
Ja, die ist ganz toll.
Annie Ernaux und Proust. Also man kann ja nicht sagen, die haben jetzt einfach die Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben.
Ja, natürlich. Ohne die kreative Leistung würde das nie ein großer Roman werden. Du musst Proust sein, um dieses Werk zu schreiben. Das andere reicht nicht, eine Familie hat jeder gehabt. Jeder Mensch hat mindestens eine unglückliche Liebesgeschichte oder sieht sich als jemand anderer oder ist in Wirklichkeit homosexuell oder was immer. Aber dann mach doch mal das draus, dieses Kunstwerk.
Aber jetzt zu einem ganz anderen Thema, und zwar: Schreiben als Lebensform. Du hast ja angefangen zu schreiben mit der Unterstützung des deutschen Literaturfonds, der deine Arbeit an „Vienna“ gefördert hat. Aber du hattest keinen Agenten, oder?
Doch, den hatte ich bereits ab dem Irving-Buch. Das Irving-Buch wurde ja ursprünglich von Suhrkamp bestellt. Ich war in London und berichtete über diesen Irving-Prozess. Und da sitz ich in einem roten Doppeldeckerbus, es läutet mein Handy und dran war eine großartige Lektorin des Jüdischen Verlags. Sie sagte, sie liest jeden Tag mit großem Interesse meine Berichterstattung in der Zeitung und sie möchte gerne, wenn das fertig ist, ein Buch draus machen. Das war, glaube ich, am Tag drei des Prozesses. Ich war geschmeichelt und habe sofort angefangen, doppelt so viel zu recherchieren. Ich bin also auch zur Rechtsanwaltskanzlei der Verteidiger von Penguin und Deborah Lipstadt gegangen, ich musste die ganze Vorgeschichte des Prozesses auch noch verstehen, für ein Buch. Das war viel Arbeit. Aber als der Prozess zu Ende war, rief sie mich plötzlich an und sagte ab. Es ist ihr heute noch peinlich: Herr Unseld hat gesagt, in unserem Verlag erscheinen keine Bücher über Holocaust-Leugner. Das war dort ein No-go im Jahr 2000. Also das hat man auch für guten deutschen Antifaschismus gehalten: dass man Holocaust-Leugner lieber gar nicht zur Kenntnis nimmt. Und mein Impetus, über diesen Prozess zu berichten, war genau der umgekehrte. Ich wollte wissen, was diese Leute antreibt, welchen Einfluss die haben und ob man sich vor ihnen fürchten muss. Und wie man sie bekämpfen kann. Also, ich suchte nach Erkenntnis und die wollten das lieber totschweigen. Klar, David Irving war ein ziemlich unangenehmer Mensch für gute Deutsche, geläuterte Deutsche, weil der so gern die Dresden-Tote hochgerechnet und die Coventry-Toten runtergerechnet hat. Ein fließend Deutsch sprechender, echter Gentleman mit gewissen Manieren, aber auch ein rechtsgerichteter Self-Made-Historiker. Von so einer diabolischen Figur wollte man als Deutscher überhaupt nichts wissen, erst recht nicht von so einem verteidigt werden, oder seine Lieblingsbehauptung hören: Hitler hat nichts von der Endlösung gewusst. Jedenfalls war ich sauer, weil ich mich schon gefreut hatte: mein erstes Buch. Also rief ich Matthias Landwehr, der bis heute mein Agent ist, an. Wir kannten uns privat. Und ich fragte: Suhrkamp hat mir abgesagt, glaubst du, du findest einen anderen Verlag? Er meinte, bei dem Thema wird´s schwierig. Aber zwei Wochen später hatte er schon zwei konkurrierende Verlage und eine kleine Auktion. Ich habe also zum ersten Mal richtig Geld verdient, mit dem Schreiben. Und seit damals ist Matthias Landwehr mein Agent und auch mein Freund. Bis heute hat er alles mit mir mitgemacht.
Also, es ist schon wichtig. Man sollte schon einen Agenten haben?
Ich war immer sehr froh, ihn zu haben, als Berater, auch bei Lebensentscheidungen. Das kann, wie bei uns, eine große Vertrauensbeziehung sein.
Und noch was in die Richtung: Wie wichtig sind Literaturpreise?
Die sind bei mir relativ spät gekommen. Ich glaub, den ersten hab ich gekriegt für „Quasikristalle“. Für „Vienna“ bekam ich so einen Debutpreis[4], aber das hat sich überhaupt nicht so angefühlt wie ein Preis. Das war so eine Show, man bekam auch kein Geld. Das war eher so eine Werbeveranstaltung für Bayern, zur Erinnerung bekam man eine Figur von der Nymphenburger Porzellanmanufaktur. Ich weiß gar nicht, wo die bei all den Umzügen geblieben ist. Die ist angeblich sehr wertvoll. Jedenfalls, der erste richtige Preis, den ich gekriegt habe, kurz nach dem Erscheinen von „Quasikristalle“, das war der Gerty-Spies-Preis, den kannte damals noch kein Mensch. Aber dann kam der Böll-Preis und das war der Hammer. Die Preise machen schon etwas mit dir, wer das Gegenteil behauptet, lügt. Mich hat das zu einem selbstbewussteren Menschen gemacht. Es hat mich stabilisiert. Ich hab mir das ja lang gar nicht geglaubt, so Schriftstellerin, ich hab mich noch lange „nur“ als Journalistin gefühlt und eher wie eine Hochstaplerin. Und bei „Vienna“ hab ich das ja auch noch draufgekriegt. Der erste wirklich schlimme Verriss von „Vienna“ war von Volker Hage im Spiegel und der begann mit dem Satz: „Heutzutage glaubt ja schon jeder Journalist, dass er einen ordentlichen Roman schreiben kann“. Das hat echt gesessen – Hochstaplerin. Aber ich habe seither wirklich viele schöne Preise gekriegt, und das tut einfach gut.
Aber da muss man wahrscheinlich wirklich zuerst einen Roman schreiben, damit man einen Literaturpreis bekommt?
Ja, mit den Erzählungen allein eher nicht. Und „Vienna“ war das Debut. Die meisten von den Literaturwissenschaftlern, also die paar, mit denen ich Kontakt habe, weil sie über mich schreiben oder arbeiten, sind Fans von „Lässliche Todsünden“. Mir kommt das Buch an manchen Stellen inzwischen ziemlich verkopft vor.
Es ist nicht verkopft, es ist kompliziert. Es hat so viele Schichten und man findet immer noch was Neues. Und vor allem sind das wirklich Geschichten, die hängen bleiben, über die man dann auch nachher immer wieder nachdenkt. Ich hab das Buch natürlich auch oft gelesen, wir haben die Übersetzung ja immer wieder neu korrigiert[5].
Ja, aber ich hoffe, dass „Tiere für Fortgeschrittene“ auch so funktioniert, dass Dinge hängen bleiben, aber dass hier der Zugang leichter ist. Also, meine Lieblingsgeschichte in „Lässliche Todsünden“ ist die mit dem Begräbnis, „Neid“. Aber wenn ich mir heute anschaue, wie die aufgebaut ist, das ist ja ziemlich verwirrend.
Noch eine ganz andere Frage. Diese Sünden in „Lässliche Todsünden“, da frag ich mich, ob das wirklich Sünden sind, oder eher Charakterfehler.
Als ich das geschrieben habe, also nach der Geburt meines Sohnes, habe ich ständig die sieben Todsünden von Kurt Weill gehört. So fragte ich mich eines Tages: Was sind eigentlich diese Todsünden? Und dann hab ich nachgelesen – dieses mittelalterliche Konzept der katholischen Kirche. Man hat es ja auch wieder verworfen – einmal gab es acht Todsünden und dann gab´s nur noch vier. Und dann hab ich mich gefragt – und das ist etwas, was ich mich immer frage – ob man mit solchen alten Konzepten noch irgendwas anfangen kann, in der Gegenwart. Was soll das denn eigentlich sein, was bedeutet für mich Hochmut, Geiz, Gier, Wollust? In welchen homöopathischen Dosen spielen die in unserem Alltagsleben eine Rolle? Wie kann man dieses alte, wuchtige Konzept nehmen und heute in der Gegenwart erzählen? Da sind diese Erzählungen rausgekommen. Ich stelle mir immer vor, dass ich bastle beim Schreiben. Dass man da etwas nimmt und mit dem da zusammen was Neues macht. Ich denke auch in Bildern von Modelleisenbahn-Landschaften, die man sich selber baut. So wie man sie gerade schön findet. Und da baut man halt Zeug rein, das man kennt und Neues, das gut dazu passt. So hab ich diese Sünden-Erzählungen geschrieben. Ich dachte, ich will es klein halten, ich will es alltäglich halten, unspektakulär. Ich will Sünden erzählen, die der Sündige gar nicht merkt, weil die einfach nur aus der Situation entstanden sind, oder aus einer Prägung, einer alten Verletzung, oder aus einer schlechten Tageslaune. Sozusagen eher zufällig. Wenn man über das liberale Bürgertum nachdenkt, das in diesen Erzählungen das Personal ist, die sind gebildet, zivilisiert, das ist eine ganz andere Menschengruppe als in „Dunkelblum“, die verroht sind, auch moralisch, nach dem 2. Weltkrieg und den Jahren der Nachkriegszeit. Und die in „Lässliche Todsünden“ sind das nicht. Die wollen natürlich niemandem schaden. Die wachen morgens auf und halten sich für gute Menschen. Und gehen abends als gute Menschen schlafen. Trotzdem heißt leben schuldig werden, heißt leben, dass man andere Leute verletzt. Das ist kein philosophisches Konzept, das sind nur Dinge, die ich so wahrnehme. Und die möchte ich versuchen, literarisch zu zeigen.
Gibt es denn bei den Juden Sünden?
Es ist schon anders. Es sind eher gute Taten, die von dir verlangt werden.
Eine meiner Freundinnen, selbst Jüdin, die auch dazu forscht, meint, dass es bei den Juden vor allem darum geht, dass man miteinander lebt und nicht gegeneinander, und Sünde ist es, wenn man gegen dieses Miteinander verstößt. Was auch bezogen auf „Lässliche Todsünden“ funktioniert. Denn in dem Buch geht es ja darum, dass die Leute eigentlich die anderen gar nicht wahrnehmen. Jeder lebt so vor sich hin, sieht den anderen gar nicht, merkt gar nicht, was mit dem anderen los ist und zieht so sein eigenes Programm durch. Was er gerade so machen will, völlig rücksichtslos. Am Anfang hab ich immer gedacht, es geht in dem Buch um misslungene Kommunikation, oder um das Fehlen von Kommunikation. Aber es steckt eigentlich noch viel mehr drin.
Ja, in einzelnen Fällen ist es mehr. Das könnte man sich Geschichte für Geschichte anschauen. Faktum ist, dass der Hochmut als schlimmste unter den Todsünden gegolten hat. Also, wenn es eine Hierarchisierung gab in der katholischen Lehre, stand der Hochmut ganz oben. Er bedeutet angeblich, dass man sich über Gott stellt, direkt gegen Gott sündigt. Und nicht nur gegen seine Gebote. Der Hochmütige glaubt, dass er Gott ist. Deshalb ist meine Hochmut-Erzählung auch die längste. Die Hauptfigur sieht sich selbst nicht. Sie trampelt mit besten Absichten über alles hinweg. Letztlich auf einem Selbstfindungstrip, als der Mann sich dann in fortgeschrittenem Alter in das junge Mädchen verliebt. Das ist ja fast ein Erlösungsglaube, den er gegen seine tiefkatholische Ehefrau durchsetzt. Diese Erzählung ist schon auch sehr katholisch. So wie die österreichischen Adligen, die sind bis an die Zähne katholisch. Und auch hier bin ich wieder auf intuitive Weise zu dem Text gekommen, indem ich ohne jeden Vorsatz begonnen habe, in der Bibliothek viel über Adel zu lesen. Über österreichischen Adel, Hochadel, mittleren Adel, Kurfürstenadel. Beinahe wäre ich noch zur Adelsexpertin geworden. Ich hab mich dann nach einer Weile gefragt: Was machst du da eigentlich? Aber genauso verläuft mein Arbeiten in der Bibliothek: Einfach lesen, worauf ich gerade Lust habe. Totale Freiheit. Nach einem Buch das nächste bestellen. Die Bücher kann man ja in der Bibliothek vom Computer aus bestellen.
Hast du das jetzt auch gemacht? Bei „Dunkelblum“?
Ja, „Dunkelblum“ hab ich komplett in der Bibliothek recherchiert. Zum Glück war die Recherchephase vorbei und ich schon mitten im Schreiben, als die Pandemie ausgebrochen ist. Sonst hätte ich ein Problem gehabt. Die Recherche hat vier Monate gedauert, dieses ganze Rechnitz- und Burgenland-Thema.
Und in welche Bibliothek gehst du zum Recherchieren?
Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Das wird bald ein Problem, denn die wird bald gesperrt wegen Sanierungsmaßnahmen, angeblich acht Jahre lang, also da bin ich dann sechzig, bis die wieder öffnet. In Berlin dauert alles meistens noch länger. Also ich muss jetzt, wann immer ich mit was Neuem beginne, woanders hingehen. Ich hab das lustigerweise neulich Claudia Roth[6] erzählt und die sagte: Da gehst du in die Humboldt, die ist jetzt neu renoviert. Das ist von meiner Wohnung aus viel weiter, aber es wird wohl darauf hinauslaufen. Ich brauche eine Bibliothek zum Arbeiten.
Man stellt sich das ja immer so vor, dass die Schriftsteller zuhause sitzen, im Elfenbeinturm.
Genau, aber da wäscht man eben auch die Wäsche und putzt das Bad und nimmt die Pakete der Nachbarn entgegen und lenkt sich auf alle verfügbaren Weisen ab. In der Bibliothek kannst du das nicht. Ich liebe die Stabi und das wird zwar richtig schwierig für mich, aber ich werde einfach in die andere gehen müssen. Ich hab damit in Wien angefangen, als mein Sohn ein Baby war und ich viel mit ihm bei meinen Eltern war, damit meine Mutter auf ihn aufpasst. Da bin ich stundenweise in die Wiener Nationalbibliothek gegangen, die ist in der Hofburg und auch sehr, sehr schön. Ein uralter Lesesaal aus der Kaiserzeit. Da habe ich mir das angewöhnt. Ich gehe zum Arbeiten in die Bibliothek und wenn ich nach Hause komme, ist die Arbeit auch vorbei. Und das läuft nicht so unklar ineinander wie bei diesem Homeoffice. Ich hätte allen vorher erklären können, was das Problem am Homeoffice ist, weil ich es ja schon weiß, mein ganzes Leben lang. Man schiebt alles weiter, schiebt und schiebt. Lieber macht man alles Technische, Praktische und Haushälterische und schiebt die Arbeit wie als Student in die Nacht hinein. Weil dann endlich Ruhe ist. Aber inzwischen kann ich nicht mehr so gut in der Nacht schreiben.
(Das Interview wurde am 27.10.2022 in Rom geführt.)
[1] Michael Chabon, Ayelet Waldman, Oliven und Asche. Schriftstellerinnen und Schriftsteller berichten über die israelische Besatzung in Palästina, 2017, Kiepenheuer & Witsch.
[2] In der Debatte mit Maxim Biller ging es um einen Artikel von Eva Menasse über den Documenta-Skandal 2022, der Biller nicht scharf genug war.
[3] Meron Mendel: Eine Antwort auf Maxim Biller. Gute Juden, linke Juden, in: Süddeutsche Zeitung, 25. Juli 2022: https://www.sueddeutsche.de/kultur/meron-mendel-maxim-biller-eva-menasse-1.5627127
[4] Corine Literaturpreis
[5] Die italienische Übersetzung von „Lässliche Todsünden“ wurde von Susanne Lippert herausgegeben: Peccati capitali veniali, Mimesis, Milano 2021.
[6] Claudia Roth ist seit 2021 Beauftragte der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien.
L'autore
- Susanne Lippert è nata a Starnberg in Germania e vive a Roma dal 1992. È pofessoressa di lingua tedesca presso l'Università degli Studi Roma Tre. Dal 1999 le sue traduzioni e poesie escono su riviste e antologie tedesche (tra cui Akzente, Das Gedicht, Orte, Litera(r)t). Ha pubblicato due volumi di poesia, "Die Schmetterlinge sind abgestürzt" (2010), ora tradotto in inglese sotto il titolo "Butterflies Lost" (2022) e "Kosmisches Gelächter" (2021) – “Risate cosmiche” (2022). Dal 2015 gestisce un laboratorio di traduzione presso l'università in cui sono state tradotte in italiano opere di Eva Menasse, Friedrich Christian Delius, Doris Dörrie e Marc-Uwe Kling. Le sue linee di ricerca sono il plurilinguismo, la didattica del tedesco, la traduttologia.
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