Liebe Marion, deine Dichtung beschäftigt mich seit mehr als zehn Jahren. Meine Wahrnehmung von den Texten ist also auch schon mit meinem persönlichen kulturellen Gedächtnis verwoben. Deshalb frage ich als erstes: in deinen Gedichten, Essays sowie in deinen Romanen sind die deutsche Tradition und die Weltliteratur heraufbeschworen. Gibt es Dichter und Denker der Europäische Literatur die für dich unabdingbar sind? Kann man überhaupt unterscheiden zwischen Beobachten, Betrachten und Forschern?
Ich komme in meinen Büchern, in meinen ästhetischen Überlegungen immer wieder auf Immanuel Kant zurück. Seine Kritik der Urteilskraft und insbesondere die Untersuchungen über das Erhabene als ästhetische Kategorie finde ich immer neu lesens- und bedenkenswert. In der kantischen Theorie des Erhabenen wird von Phänomenen ausgegangen, die das menschliche Auffassungsvermögen in ihrer Größe und Dynamik übersteigen, die letztlich drohen, dieses Auffassungsvermögen ganz auszulöschen. Eine künstlerische Auseinandersetzung ist dennoch möglich, „wenn wir uns nur in Sicherheit befinden“.
Im Zusammenhang mit dem Klimawandel haben wir es gegenwärtig mit Veränderungen zu tun, die das Vorstellungsvermögen des einzelnen überschreiten. Sie erstrecken sich räumlich über den gesamten Globus, ja darüber hinaus, da unser Schrott bereits im Weltraum deponiert ist, sie erstrecken sich, gemessen an der Erdgeschichte, in ihren Konsequenzen über Zeiträume, die unabsehbar sind, bzw., denkt man etwa an das Artensterben, so enorm beschleunigt werden, daß unabsehbare Zeiträume auf einen winzigen Moment zusammenschrumpfen, einen kurzen Moment, in dem Dinge geschehen, die nicht revidierbar sind. Dennoch erleben wir derzeit, daß der menschliche Einfluß ganz konkret über das menschliche Maß hinausgeht, daß er beispielsweise das Wetter beeinflußt, wie es zu vorkantischen Zeiten eigentlich nur Gott zugeschrieben wurde.
Der Witz an der Denkfigur des Erhabenen besteht darin, daß der menschliche Geist fähig ist, sich mit einer Größe zu identifizieren, die über den eigenen Erfahrungshorizont hinausgeht, und darin die Unendlichkeit des Bewußtseins zu spiegeln. Bekanntlich liegt in diesem Ansatz auch die Gefahr von Pathos, Selbstüberschätzung und, verkürzt gesagt, totalitären Systemen, weshalb er eine Zeitlang verpönt war. Dennoch könnte man ihn in der aktuellen Situation literarisch revidieren: das Unsichtbare sehen, das Undenkbare denken, das Übermaß fassen.
Geliehene Landschaften ist ein poetisches Reisebuch, wo mittels Naturlyrik eine parodistische Autofiktion evoziert sowie Menschheitsgeschichte nachgedichtet wird. Die Germanisten denken sofort an Goethe als Modell, wobei in den Gedichten auch die Bezugnahme zu einer „orientalischen“ Naturdichtung (mit der Zitation von Basho und überhaupt mit der ganzen Struktur des Bandes) eine Rolle spielt. Naturbeschreibung, Mensch-Natur Beziehung und eigentlich die Möglichkeit zu „Beschreiben“, Erkennen und Einbildungskraft sind wichtige Themen, Spinoza, Hamann und Kant deklarierte Quellen. Würdest du bitte so nett sein, für das Publikum von deinen Literarischen – vielleicht philosophischen Ansätze – einige zusammenzufassen?
Tatsächlich könnte man sagen, es ist ein Reisebuch. Das Aufbrechen in fremde Räume ist ja ein grundlegendes Merkmal der Poesie. Mit einem Gedicht begibt man sich in einen geistigen Raum, den es vorher so nicht gab, und das ist ein Faszinosum. Reale Reisen können solch einen Vorgang vielleicht spiegeln. Man macht sich auf in etwas Unbekanntes, und wenn die bekannten Strukturen fehlen, ist man selbst damit konfrontiert, daß man sich verändert, vielleicht auch ästhetisch.
An der traditionellen Ästhetik fernöstlicher Kulturen fasziniert mich besonders, daß Natur, Kultur und Metaphysik nicht als getrennt wahrgenommen werden, sondern, etwa im Japanischen Garten, eine Einheit bilden. In der klassischen japanischen Dichtung, etwa bei Basho, ist es das erklärte Ziel der Poesie, sich so in die Natur einzufühlen, daß man mit ihr eins wird. Und dann praktisch von der Seite der Natur zu sprechen.
Gleichzeitig ist unsere Sprache so strukturiert, daß sie einen Abstand setzt zwischen mir und dem Naturgegenstand, meinetwegen dem Bambus. Das ermöglicht es uns, Natur als Material, als Ressource zu betrachten. Wer spricht, muß sich entscheiden, ob er sich selbst als Natur ansieht oder doch als etwas der Natur Entgegengesetztes.
Mir ist es wichtig, diesen Prozeß immer wieder zu reflektieren. Denn der Umgang mit Natur wie auch der Umgang mit anderen Menschen wird von dieser Haltung bestimmt.
„Alles kann Motiv sein“ sagte Hilde Domin, und konstruierte damit ihre politische und widerstandszentrierte Poetologie. Ist für dich Natur ein ästhetisches Motiv, oder ein politischer Ansatz? Und was heißt für deine Poetologie „Umwelt“?
Selbstverständlich kann alles Motiv sein, und in der modernen Welt kann auch manches Natur sein, was man bisher nie so gesehen hat, etwa wenn wir von einer Sofalandschaft oder von einer Wellness-Oase sprechen. Die poetologische Umwelt in meinen Gedichten bestimmt sich allerdings weniger durch das Material, das ich sammele, manchmal aus Biologiebüchern, manchmal aus technischen Anleitungen oder Fachartikeln, sondern entscheidend ist im Grunde die Anordnung, sind die neuen Zusammenhänge, in denen diese Elemente dann auftauchen.
Unterschiedliche lyrische Formen sind für mich wie ein jeweils unterschiedlicher Fokus auf die Welt, oder besser verschiedene Siebe, mit denen Arten von Gedanken und Wahrnehmungen in sprachliche Formulierungen gefaßt werden können. Eine feste lyrische Form beeinflußt sehr stark den Blick auf die Welt, weil bestimmte Tonlagen, Phrasierungen, ja ganze Gruppen von Wortmaterial dadurch möglich oder eben unmöglich gemacht werden. Die Entscheidung für eine Form, und das gilt auch für den freien Vers, ist die Entscheidung für eine Vorannahme in meinem Blick auf die Welt; ein Experiment mit einer Erkenntnisform.
Welche Gedichte hast für den European Green Poetry Festival gewählt und worüber geht es in den Kompositionen?
Es geht in den Gedichten um reale Landschaften, aber auch um künstliche Landschaften und nicht zuletzt literarische Landschaften. Einerseits geht es um die schöpferische Kraft, die Natura naturans, die die Natur mit der Dichtung teilt. Es geht um Möglichkeiten und Probleme der Wahrnehmung: Wie ordnen wir Phänomene ein, wie ordnen wir die Welt und ihre Dinge, gehören zum Beispiel Naturgegenstände zu den Ressourcen oder zu den Lebewesen? Und es geht um Sprache: Mit welcher Sprache versuchen wir, flüchtige Erscheinungen wie Naturphänomene, Wetter, Jahreszeiten, Atmosphären zu erfassen? Und welche literarischen Vorlagen haben einen Einfluß darauf, wie wir sehen und bewerten?
Welche Rolle spielen Mensch und Natur in deinen Gedichten?
Natur ist ein sehr offener Begriff, er bezeichnet landläufig ein grünendes Umfeld, auch ein scheinbar voraussetzungslos, ohne menschliche Eingriffe, gedeihendes Umfeld, aber auch die menschliche Natur. Mich interessiert, wie Natur, Zivilisation und Kultur ineinanderspielen, und ob das überhaupt Gegensätze sind. In der Lyrik wird Natur oft mit dem Idyllischen assoziiert, mit Stille und Ruhe und einer etwas harmlosen Schönheit, aber dabei vergißt man, daß dieser Natur auch eine gewaltige Zerstörungskraft innewohnt. Stürme, Unwetter, Schneekatastrophen sind imposant und gefährlich zugleich. Mir ist es wichtig, diese Ambivalenz zu zeigen. Zugleich möchte ich fragen, ob sich Mensch und Natur gegenüberstehen oder ob der Mensch als Teil der Natur gedacht werden kann. Je nach dem, zu welcher Antwort man kommt, hat das Konsequenzen – für ein Gedicht und auch für die Welt.
Ich verdanke der Empfindsamkeit, der Aufklärung, der Romantik viel, das sind die Epochen, in denen Natur überhaupt erst in deutschsprachigen Gedichten thematisiert wurde, in denen sie nicht als Idyllenraum und Staffage diente, sondern philosophische Relevanz erhielt. Und die Frage, die damals implizit aufkam, ist Natur ein Innenraum oder ein Außenraum, beschäftigt mich noch immer.
Würdest du kurz auch über deinen neuen Gedichtband – gerade erschienen bei Suhrkamp – sprechen? Wie fügt die Invokation an Antigone und die Nachdichtung des Mythos Natur und Dichtung zusammen?
Mein neuer Gedichtband hat den Titel „Nimbus“, ursprünglich ist das der lateinische Begriff für „dunkle Wolke“, also die Regenwolke, dann hat sich die Bedeutung ausgeweitet auf Heiligenschein, Aureole. In der Bibel hat man hat sich die göttliche Macht auch als Wettergott vorgestellt, als verborgen in der Wolke, zürnend mit Blitz und Donner, und daher rührt wohl diese Bedeutungsverschiebung von der Meteorologie in die Kunstgeschichte.
Dem Eingangsgedicht in diesem Band ist ein Motto vorangestellt aus der Antigone von Sophokles: „Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch“. Es geht mir in diesem Gedicht, und generell in diesem Band, darum, daß das lyrischen Ich nicht außerhalb steht und anklagt, sondern es ist, wie wir alle, in die gegenwärtigen Prozesse einbezogen, es ist selbst Teil dieser Vorgänge, daß z.B die Pole schmelzen, also etwas Ungeheuerliches geschieht, und das gibt jedem einzelnen eine ungeheure, eine enorme und unheimliche Macht, und damit auch eine Verantwortung.
Es ist eine Haltung, die versucht, sich erst einmal die eigene Position bewußt zu machen. Insofern sind meine Gedichte keine Appelle, keine politischen Interventionen, ich sehe sie eher als Erkenntnisinstrumente. Es geht mir darum, überhaupt erst einmal eine Sprache zu finden für das, was ich als neues Geschehen erlebe. Und dafür ist die Dichtung wiederum geeigneter als manch selbstgewisse Artikulation.
L'autore
- Paola Del Zoppo insegna Letteratura tedesca al dipartimento DISTU dell'Università della Tuscia di Viterbo e si occupa prevalentemente di studi letterari, critica ed estetica della letteratura e studi culturali e transculturali.
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